Warum dieser Reiseblog kein Social Media hat

Und du weder Bilder auf Instagram ansehen, noch selber welche hochladen musst, um ein erfülltes Leben zu führen. Eine Erkundung.

Die Gischt eines balinesischen Wasserfalls auf der Haut spüren, Party machen Koh Pagan, Sandboarden in der Atacama-Wüste. Ein Leben gefüllt mit diesen Erfahrungen klingt sehr erstrebenswert, nicht wahr? Abwechslung und Abenteuer stehen für viele Menschen ganz oben auf der Liste an Dingen, die ein erfülltes Leben ausmachen. Diesen Trend gibt es nicht erst seit wir solche Momente auf sozialen Medien mit der ganzen Welt teilen konnten. Nein, diese Tendenz erkannte der britische Soziologe John Urry schon im Jahr 1994. In seinem Buch Consuming Places schrieb er:

Die Rechte von Staatsbürgern beinhalten zunehmend den Anspruch, andere Kulturen und Orte auf der ganzen Welt zu konsumieren. Ein moderner Mensch ist einer, der diese Rechte ausüben kann und sich als Konsument anderer Kulturen und Orte versteht.

Wir modernen Menschen glauben also, es steht uns zu viel von der Welt zu sehen, meint Urry. Draußen in der Welt sein, statt im Alltag versauern. Es gibt eine moderne Berufsgruppe, die dieses Traumleben führen. Reiseblogger sind nach unserem Verständnis Menschen, die wirklich intensiv leben und jeden Moment auf Foto und Video festhalten. Reiseblogger zu sein, das verspricht die Möglichkeit hingehen zu können, wo immer wir wollen. Es ist der Inbegriff von einem modernen, mobilen Leben, von Freiheit – zumindest auf den ersten Blick. Wirft man einen Blick hinter die Kulissen sieht man, dass die Freiheit schnell abnimmt. Und das hat verschiedene Gründe.

Vor dem Bildschirm oder in der Welt?

Um einen Blog zu monetarisieren, muss man Zeit investieren. Diese verbringt man vor dem Bildschirm. Kathi und Romeo, die mit dem Sommertageblog einen der beliebtesten Reiseblogs Österreichs betreiben, bringen es offen auf den Punkt:

Auch, wenn es nach außen hin so aussieht, als würden wir ständig in der Weltgeschichte herumreisen, so sitzen wir sehr oft den ganzen Tag am Laptop.

Auch Deborah und Dave vom Reiseblog Planet D können ihre Zeit nicht so frei gestalten, wie man glauben möchte. Deborah gibt im Artikel How to become a professional Travelblogger einen Blick hinter die Kulissen. Auch wenn die beiden nach einer Wanderung müde sind, oder Lust haben auszugehen, verbringen sie doch ihre Abende meist hinter dem Bildschirm, bearbeiten Fotos oder schreiben Drafts. Auch einen Tag gemütlich auf der Couch zu verbringen ist selten drin, schreibt sie. Denn: „Du kannst es dir nicht erlauben einen Moment zu verpassen. Auch, wenn du gerade keine Lust hast rauszugehen oder dich hinter deinen Laptop zu setzen.“

Deborah und ihr Mann verbringen ihre Zeit auf sozialen Netzwerken. „Menschen wollen neuen Content. Wir müssen ihnen dauernd zeigen, was wir im Moment machen“, schreibt sie. Die beiden posten Snapchat-Videos, bei denen man statt ihrer Augen Smileys sieht. Oder sie tanzen für TikTok auf einem Boot in Florida zu Surfing USA der Beach Boys. Zudem beantworten die beiden Kommentare auf Instagram, Youtube und Pinterest und verteilen Likes und Herzen. Dadurch verbringen damit wohl mehr Zeit vor ihren Bildschirmen als jemand, der 40 Stunden im Büro arbeitet. Das klingt nicht nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Das Reiseblog-Paradox

Warum lesen wir überhaupt Reiseblogs? Zuerst wollen wir daraus Informationen und Inspiration ziehen. Wir wollen Tipps über einen Ort bekommen, bevor wir dorthin reisen. Oder neue Ideen bekommen, wohin wir reisen könnten. Das alles hat ein Ziel: Die Zeit, die wir auf dieser Erde verbringen richtig nutzen, schöne Orte sehen und etwas erleben.

Diese Informationen können wir aus Büchern, Magazinen beziehen. Wir können unsere Freunde und Bekannte fragen. Wir können sie auf Google suchen. Aber tun wir das wirklich noch? Eher nicht. Meist finden wir Reiseinspirationen auf andere Weise, über Social Media. Das sieht dann etwa so aus: wir sehen einen Artikel im Facebook-Feed, ein schönes Foto (wahrscheinlich bei Sonnenuntergang, wahlweise Landschaft oder ein Mensch von hinten) auf Instagram, eine hübsch designte Grafik auf Pinterest. All das sind kleine Content-Krümel, die über das Internet verteilt werden. Wir finden den Content. Dann klicken wir auf einen Link und werden im besten Fall dadurch auf einen aufschlussreichen Artikel aufmerksam und bekommen so die gesuchte Information. Die Erfahrung zeigt aber: Meist kommen wir aber nicht so weit. Denn die sozialen Medien sind voller Content, der unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und so werden wir abgelenkt von unserem eigentlichen Vorhaben. Wir bleiben auf Instagram hängen, scrollen, sehen uns Stories an. Die Information die wir wollten haben wir dadurch nicht erhalten. Aber wir haben viel Lebenszeit investiert.

Eine Milliarde Menschen nutzen Instagram. Im Durchschnitt verbringen sie eine halbe Stunde täglich auf der Plattform.


Und zwar eine ganze Menge Lebenszeit. Der durchschnittliche Europäer verbringt 75 Minuten am Tag auf Social Media. Nimmt man an, dass man im Alter von 12 damit beginnt und, wie die WHO berechnet, 72 Jahre alt wird, summiert sich das auf über drei Lebensjahre, die wir durch soziale Netzwerke gondeln. Und das, obwohl es in der Welt um uns herum noch so viel zu entdecken gibt.

Wenn wir schon so viel Zeit mit dem Konsum von Content verbringen, machen uns das zumindest glücklicher? Die Antwort kennen wir aus Erfahrung. Sie lautet: Nein.

Illusionen über Illusionen

Wie oft sehen wir ein Foto und denken: Wie schön! Nur, um dann einige Sekunden später zu denken: Und was mache ich eigentlich? Wären wir nur auch dort, wäre alles besser, denken wir uns. Und das hat einen Grund, den Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahnemann als focus illusion nennt. Ganz simpel zusammengefasst bedeutet das: Wenn wir uns stärker auf einen Aspekt konzentrieren, kommt er uns wichtiger vor. Umgelegt auf den Content von Reisebloggern, den wir tagtäglich auf Instagram konsumieren heißt das: Wenn wir jeden Tag sehen, welchen Berg Reiseblogger A besteigt scheint es für unser Glück erstrebenswert zu sein, genau jetzt auch genau das zu machen. Weil im Leben aber nicht jeden Tag ein Abenteuer auf uns wartet, kommt uns der Alltag langweilig und wir uns unzulänglich vor.

Exzessive Nutzung von Social Media, besonders Instagram ist direkt mit FOMO, also der Angst, etwas zu verpassen verlinkt. Wir wollen keine lohnenden Erfahrungen verpassen und aktualisieren dazu laufend unseren Social Media Feed. Doch das macht uns unzufriedener mit unserem Leben. Auch das Depressionsrisiko steigt. Ein Grund für diese Verschlechterungen unserer psychischen Gesundheit und unserer Lebenszufriedenheit hat Jerry Bubrick von der NGO Child Mind Institute in einem Blogartikel zusammengefasst:

Je mehr wir Social Media verwenden, desto weniger denken wir daran im Moment präsent zu sein.

Indem wir andauernd unsere Feeds updaten, um nichts zu verpassen reihen wir virtuelle Verbindungen über solche, die wirklich sozial lohnend wären. Und wir konsumieren die Abenteuer anderer, anstatt in unserem Alltag kleine Abenteuer zu erleben. Nach dem Scrollen kommen wir uns passiver und isolierter vor, als zuvor.

Dabei muss gesagt sein, dass die Blogbeiträge, die Reiseblogger produzieren natürlich hilfreich sein können. Weil diese Menschen Erfahrungen gemacht haben, die wir so noch nicht erlebt haben. Wollen wir dieselbe Erfahrung auch machen, helfen uns deren Tipps natürlich. Und auch eine liebevoll formulierte Reisegeschichte zu lesen, kann eine bereichernde Erfahrung sein.

Es ist paradox. Reiseblogger produzieren über einen Laptop gebeugt Inhalte, damit sie andere über einen Bildschirm gebeugt ansehen. Und das Ziel des ganzen soll sein, die Welt kennenzulernen. Der ausufernde Social-Media-Apparat der sich entwickelt hat zwingt Menschen, die vom Bloggen leben ihre Zeit mit dem Erstellen, Verbreiten und Betreuen von kleinen Content-Brocken zu verbringen. Menschen, die Reisetipps und Berichte recherchieren bleiben wiederum auf dem Bildschirm kleben, fühlen sich isoliert und passiv.

Sei jetzt hier

Als ich diesen Blog gestartet habe, war ich gerade auf einer Reise durch Marokko. Jeden Morgen war ich auf der Suche nach dem Symbol mit den drei gebogenen Strichen: WLAN! Dann stapelte ich meine Kamera, mein Handy und meinen Laptop neben eine Tasse marokkanischen Tee auf ein wackeliges Cafétischchen und begann zu tippen. Ich kam erst zurück, wenn ich ein Foto bearbeitet, mit Hashtags versehen, betextet und auf Instagram gepostet hatte. Ich wusste, dass 9 Uhr die beste Posting-Zeit ist und, dass mit #postcardsfromtheworld am Meisten Menschen Reisebilder suchten. Dieses Wissen nutze ich, um meine Inhalte zu verbreiten. Das wirkte. 1.500 Follower innerhalb von vier Wochen. Und trotzdem war die Zeit verschenkt. Und zwar meine und jene von denen, die den Beitrag gesehen haben.

Heute weiß ich, dass ich die Zeit besser damit verbracht hätte marokkanisches Arabisch zu lernen, mit meinem Sitznachbarn im Café zu plaudern, auf die vor Hitze flimmernde Straße zu schauen. Oder einfach die Süße des marokkanischen Tees auf meiner Zunge zu spüren – also den Moment im wahrsten Sinne des Wortes ausgekostet.

Halte es mit dem Sänger Tom Rosenthal. Er singt: „Go on any train, bus or plane. You’ll see people who have stopped looking out of windows. Don not be one of them.“

Hätte ich mich nur schon damals an den Rat des Autors Rolf Dobelli gehalten. In einem mit Wir Erinnerungssparer betitelten Kapitel seines Buches Die Kunst des guten Lebens schreibt er:

Maximieren Sie Ihre momentanen Erlebnisse statt Ihre zukünftigen Erinnerungen.

Heute versuche ich mein Bestes, diesen Ratschlag zu befolgen. Ich habe mein Instagram und Facebook gegen eine Maxime ausgetauscht: Ich will anderen keine vermeintlich perfekten Momente präsentieren oder passiv durch die Erlebnisse anderer scrollen. Ich will erfahren und wissen, wie die Welt funktioniert. Und das lernt man nicht auf Social Media. Sondern durch Gespräche, gute Bücher und intensiv gelebte Momente.

Mit der Nase über dem Handy verpassen wir vielleicht einen beeindruckenden Ausblick, ein spannendes Gespräch, einen unbekannten Geruch oder einen kleinen Akt der Menschlichkeit. Fotos von diesem Berg gibt es Ende nie. Aber diese Erfahrung in diesem Körper in genau diesem Moment und an genau diesem Ort – die erleben nur wir. Wie töricht wäre es, sie zu verschenken für einen kleinen Brotkrumen an hübschem Content?

Allen, die mehr Zeit in der Welt und weniger hinter dem Bildschirm verbringen wollen, sei das Buch „Digital Minimalism“ von Cal Newport ans Herz gelegt

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